»Heimat«

An was denken Sie?

»Heimat ist nicht in erster Linie die Wohnung, das Heim. Sie ist der Ort, das Städtchen, das Dorf, manchmal auch die große Stadt, in denen das Kind aufgewachsen ist. […] Heimat sind die Bäume im Park, im Garten, unter denen das Kind spielte; Heimat ist der Geschmack des Butterbrots, das es in der Schule mitbekam; […] Heimat ist der Boden, in dem die Großeltern begraben liegen; […] Heimat ist die Sprache, ihre Tönung, ihre Melodie, die das Kind aufnahm, bevor es selbst zu sprechen begann. Heimat ist das Unverlorene, das Unverlierbare, der geografische und kulturelle Landstrich, in dem das Kind aufwuchs« (Chargaff, 1995, S.87f).

Ein Begriff, der sofort in Assoziationen aufgelöst wird, in Gefühle, Gerüche, Erlebtes und so für jede*n Einzelne*n unbewusst definiert wird. Gleichzeitig ist eine allgemeingültige Definition nur schwer festzuhalten. Für Erwin Chargaff ist Heimat vor allem eine unverlierbare Erinnerung. Für Andrea Bastian beschreibt Heimat ein menschliches Grundbedürfnis, das Vertrautheit, Sicherheit, Zugehörigkeit und Anerkennung voraussetzt. (vgl. Bastian, 1995, S.43)

In jedem Fall beschreibt Heimat etwas elementar wichtiges und sprachlich einzigartiges. Kein anderer Kulturkreis besitzt ein Wort für dieses Gefühl, Bedürfnis, Erinnerbare. (vgl. Riedl, 1995, S.7f)

 

Heimat verlieren

Vor sechs Jahren saß ich bei Frieda Kliger am Küchentisch und fragte sie eben diese Frage nach ihrer Definition von Heimat. Ihre Antwort: »Home is like a bird has a nest. Home is to feel love around you, to feel free to say what takes your thoughts, what pains you, what disturbs you. If you have people around you who you love.«*

Diese Antwort hat mir zum ersten Mal deutlich gemacht, wie sehr sich eine Definition von Heimat ändern und dass man seine Heimat ganz und gar verlieren kann. Der Mensch braucht eine neue Art von Heimat, um wirklich weiterleben zu können.
Frieda Kliger ist in Warschau geboren, hatte zwei ältere Schwestern und einen liebevollen Vater. Sie hatte Träume, wollte Physik studieren, und war verliebt. Hätte ich die 19-jährige Frieda nach ihrer Heimat gefragt, wäre die Antwort wahrscheinlich anders ausgefallen. Doch Frieda war Jüdin und kam 1921 auf diese Welt.

Frieda Kliger wurde die lebensnotwendige Vertrautheit, Sicherheit, Zugehörigkeit und Anerkennung so elementar geraubt, dass ich keinen Ausdruck dafür finde. Ausgegrenzt von Freunden, Nachbarn und Schulkameraden; per Gesetz jeglicher Rechte beraubt; aus ihrer Wohnung vertrieben und im Warschauer Ghetto eingesperrt; mit einem Stern gekennzeichnet; ausgelacht; bedroht; denunziert; als Dreck, Ungeziefer und nicht menschlich beschimpft; ohne Daseinsberechtigung; in Viehwaggons deportiert; Vater und Geliebter für immer entrissen; ihren letzten wertvollen Erinnerungen, schnell zusammengestellt in einem Koffer, beraubt; keine Macht, ihren kleinen Neffen Lutek zu beschützen; zum Ausziehen gezwungen und von Fremden brutal rasiert, desinfiziert; zu einer Nummer geworden; hoffnungslos.

Der letzte Satz unseres Interviews: »Sarah don’t cry, I cried enough for all that.« beschreibt unsere intensive und emotionale gemeinsame Zeit sehr gut. Zwei Tage lang haben wir geredet und geweint. In diesem Moment ist es mir wirklich schwergefallen, positiv nach vorne zu schauen. Und dann steht eine kleine, damals 90-jährige Frau vor mir – das unfassbare Grauen schwebt in unausgesprochenen Worten im Raum – nimmt mich in den Arm und freut sich, in mir eine Freundin gefunden zu haben. Ich bin der erste Mensch aus Deutschland, mit dem sie seit Kriegsende gesprochen hat.

Frieda ist etwas Besonderes. Sie hatte die Kraft, sich einen neuen Raum der Vertrautheit zu schaffen. Ihre Heimat ist wie ein Nest und findet sich in Menschen, die sie lieben. Es ist kein Ort mehr. Es ist eine lebendige Definition. Ich versuche seither Frieda zu lieben, indem ich ihre Geschichte weitererzähle und mir ihre Worte zu Herzen nehme. Sie änderte auch meine Definition von Heimat.

 

Heimat suchen und geben

Was findet sich heute von der Begegnung mit Frieda in meinem Alltag wieder?

Ich durfte, nachdem meine eigene Definition von Heimat aufgewühlt worden war, ein Stück neue Heimat in meinem eigenen Projekt wiederfinden. HEIMATSUCHER ist mittlerweile zu einem sozialen Unternehmen geworden, mit rund 80 jungen, engagierten Ehrenamtlichen. Gemeinsam erzählen wir die Geschichten der Überlebenden vor allem an jungen Menschen weiter. Damit die Geschichten nicht vergessen werden. Damit junge Menschen die Möglichkeit haben, zu begreifen und motiviert werden, sich selbst gegen Rassismus einzusetzen. Eines meiner Ziele ist es, den engagierten und hochmotivierten Ehrenamtlichen von HEIMATSUCHER die beste Grundlage für mutiges Handeln zu geben, die ich zu bieten habe.

Und deswegen versuche ich ihre Zeit, ihre Ideen, ihre Kritik und sie als Menschen selbst anzuerkennen. Jede*r Ehrenamtliche steuert etwas ganz eigenes und Wertvolles zu unserer Arbeit bei. Es ist nicht an mir, sie zu verändern. Aber es kann an mir sein, ihnen die Sicherheit zu geben, dass sie sich ausprobieren und wachsen können. Es kann auch an mir sein, eine Atmosphäre der Vertrautheit in meinem Team zu schaffen, indem ich selbst vertraue, Vertrauen pflege und nicht nur Chef sondern auch Mensch bin. Und schließlich kann ich sie Teil dieses unglaublich tollen Projekts werden lassen. Sie mit anderen Menschen zusammenbringen, die etwas verändern wollen und an die Menschheit glauben. Denn ich selbst habe immer wieder erfahren dürfen, wie viel Energie einem das Gefühl von Zugehörigkeit gibt.

Selbstverständlich gelingt das mal besser mal schlechter. Aber Frieda und Andrea Bastians Definition von Heimat sind seither eine gute Orientierung für mich als Führungsperson.

 

Sarah Hüttenberend, 1. Vorsitzende von HEIMATSUCHER e.V.

mit Gedanken von Ruth-Anne Damm, 2. Vorsitzende von HEIMATSUCHER e.V.

 

 

*»Heimat ist wie das Nest für einen Vogel. Heimat ist die Liebe, die du um dich herum fühlst. Es bedeutet, sich frei fühlen, sagen zu können, was deine Gedanken sind, was dich schmerzt und was dich stört. Heimat ist, wenn man die Leute um sich herum hat, die du liebst.«

 

Literatur

Améry, J.: Wieviel Heimat braucht der Mensch? In: Jenseits von Schuld und Sühne. Bewältigungsversuche eines Überwältigten. In: Klett-Cotta. Stuttgart. 2008.

Bastian, A.: Der Heimat-Begriff: eine begriffsgeschichtliche Untersuchung in verschiedenen Funktionsbereichen der deutschen Sprache. In: Reihe Germanistische Linguistik. Band 159. Max Niemeyer Verlag. Tübingen. 1995.

Chargaff, E.: Heimat, dieses seltsame Wort. In: Alphabetische Anschläge. Klett-Cotta Verlag.

Stuttgart. 1990.

 

Sarah Hüttenberend hat vor sechs Jahren ein Projekt gegründet, das unter dem Namen »HEIMATSUCHER« die Geschichten von Holocaustüberlebenden an junge Menschen weitererzählt. Seinen Anfang hatte das Projekt jedoch im Zuhören. Bis heute durfte sie mit 21 Überlebenden sprechen.

 

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